15.05.2022 – Da wahl doch was?

Die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen am 15.05.2022 in Nordrhein-Westfalen ist mit 55,5 % auf einen historischen Tiefstand gefallen. 2017 lag diese noch bei 65,2 %, während der bisherige Höchststand 1975 mit 86,1 % erzielt wurde. Die bisher niedrigste Wahlbeteiligung gab es im Jahr 2000 mit 56,7 %. Eine niedrige Wahlbeteiligung ist zunächst nicht grundsätzlich problematisch. Zum Problem wird diese allerdings, wenn dass daraus resultierende Ergebnis die Gesamtbevölkerung nur verzerrt widerspiegelt. Für ein repräsentativ-demokratisch verfasstes System ist eine niedrige Wahlbeteiligung aus gleich zweierlei Gründen problematisch. Sie geht zum einem einher mit einem Legitimationsdefizit und zum anderen mit einem Repräsentationsdefizit. Legitimation kann hier zunächst als Rechtfertigung politischen Handelns definiert werden. Der Politikwissenschaftler Fritz. W. Scharpf hat hier nochmal zwischen einer Input-Legitimation und einer Output-Legitimation unterschieden, orientiert an ein berühmtes Zitat des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln: „Government by the people, of the people, for the people“. Die Autorisierung politischer Macht wird in repräsenativen Demokratien hauptsächlich über freie, gleiche und allgemeine Wahlen hergestellt. Input-Legitimation bedeutet in diesem Zusammenhang die rechtmäßige bzw. legitime Übertragung von Macht der Wählerschaft auf ihre Vertretung. Die Bürgerinnen und Bürger bestimen durch Wahl ihre Vertreterinnen und Vertreter und sind so an der Herstellung demokratischer Legitimität beteiligt. Die Input-Legitimation beruht also auf dem normativen Prinzip der Zustimmung der Beherrschten (government by the people). Die sogenannte Output-Legitimation bezeichnet dann die konkrete Politikumsetzung, d.h. das Produzieren von (im günstigsten Fall) nützlichen Ergebnissen für alle Betroffenen. Die Output-Legitimation beruht demnach auf dem funktionalen Prinzip der Nützlichkeit (government for the people). Wo liegt nun das Problem einer niedrigen Wahlbeteiligung bzw. welche Folgen hat diese für die Legitimation der politischen Akteure? Bei Wahlen gilt der Grundsatz der demokratischen Gleichheit, d.h. alle Wahlberechtigen verfügen über ein identisches Stimmrecht. Wenn nur etwa die Hälfte der Stimmberechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, wird dieses Gleichheitsgebot verletzt. Fraglich ist natürlich, ab welcher Wahlbeteiligung überhaupt von einer De-Legitimierung gesprochen werden kann? Grundsätzlich ist in Deutschland die einfache Mehrheitsregel das Kriterium demokratischer Entscheidungsfindung (vgl. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Eine Entscheidung gilt demnach als demokratisch getroffen, wenn eine Mehrheit zugestimmt hat. Fällt die Wahlbeteiligung also unter 50 % hat der Wahlakt selbst nicht einmal mehr eine „relative“ (im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wählerschaft) Mehrheit. Ab dieser Beteiligung würde dann die absolute Minderheit Herrschaft über die Mehrheit ausüben. Kommt es nun zur sich anbahnenden Regierungskoalition zwischen CDU und Grünen in Nordrhein-Westfalen und rechnet man die Stimmenanteile dieser Parteien auf die Anzahl der Wahlberechtigen insgesamt um, haben insgesamt 29,9 % der Wahlberechtigen diese beiden Parteien gewählt. Die (Input-)Legitimation der gewählten Repräsentanten steht demnach auf durchaus schwachen Füßen. Selbstverständlich sei hier nicht unterstellt, dass diese „Minderheitsherrschaft“ keine nützlichen Ergebnisse für die Gesamtbevölkerung produzieren kann. Zumal hierfür auch erst einmal ein politsicher Output produziert werden müsste um diese zu bewerten. Der politische Output ist zudem eng verknüpft mit dem bereits erwähnten Repräsentationsdefizit. Da die Bundessrepublik und ihre Länder repräsentativ-demokratische Systeme sind, ist eine mangelhafte Repräsentation ein fundamentales Problem. Dabei ist die Höhe der Wahlbeteiligung hierbei zunächst zweitrangig, da beispielsweise auch eine Wählerschaft von nur 10 % ein repräsentatives Abbild der Bevölkerung darstellen kann. Kritisch ist eine geringe Wahlbeteiligung dann, wenn das Wahlergebnis die Bevölkerung insgesamt nur verzerrt widerspiegelt. Nichtwähler sind dabei durch klare sozialstrukturelle Merkmale gekennzeichnet: Sie sind häufig jünger, haben eine niedrigen formalen Bildungsstand und eine schwachen sozialen Status. Nichtwähler sind also in vielfältiger Weise strukturell benachteiligt und insbesondere in den sozialen Brennpunkten ist der Anteil dieser Menschen besonders hoch. Soziale Verzerrungen lassen sich bei sinkender Wahlbeteiligung regelmäßig beobachten. Während die Wahlbeteiligung in den gut gebildeten und wohlhabenden Bevölkerungsschichten bei sinkender Wahlbeteiligung weitgehend stabil bleibt, geht vor allem der arme, weniger gebildete Teil der Bevölkerung verstärkt nicht zur Wahl. Nun besteht in Deutschland keine Wahlpflicht, trotzdem ist gerade diese Gruppe besonders von politischen Entscheidungen abhängig. Man denke nur an den für verfassungswidrig eingestuften Hartz IV Regelsatz, welcher die Gruppe der Nichtwähler überproportional persönlich betrifft. Einflussreiche Lobby in der Politik: Fehlanzeige. Diese Unterrepräsentation zeigt sich auch in anderen Politikfeldern. Beispielsweise in der Wohnungsbaupolitik, welche in den letzten Jahrzehnten tendenziell weniger an den Interessen der Mieterinnen und Mieter orientiert war, sondern stärker an dem der Wohnungseigentümerinnen und Wohnungseigentümer. Paradoxerweise könnte also eine Wahlpflicht genau diesen aktuell marginalisierten Gruppen helfen, welche die Stimmabgabe aktuell verweigern.